Spanienrundreise mit Alcalá de Henares
Der Bericht über die Spanienrundreise geht hier mit dem zweiten Teil in das geschichtsträchtigen Städtchen Alcalá de Henares.
Was in der Altstadt von Alcalá de Henares als erstes ins Auge springt: erhöhte Dachfirste und Türme allemal – ob sakraler Bestimmung oder profaner und bei quadratischem Grundriss auf der obersten umlaufenden Brüstung gern auch jede Ecke einzeln – sind mit Storchennestern belegt. Adebare, soweit nicht auf Nahrungssuche oder am städtischen Himmel kreisend, halten die Stellung. Häufiges Schnabelklappern klingt durch den Nachmittag. Auf dem steinernen Kreuz der Kirche San Felipe Neri an der Plaza del Padre Lecanda steht einer in kontemplativer Versunkenheit auf einem Bein …
Unweit, auf der Plaza des los Santos Niños (Platz der heiligen Kinder), erhebt sich die wuchtige romanische Kathedrale der Stadt. Der Legende zufolge ist sie an jener Stelle errichtet worden, an der die beiden Heiligenkinder von Alcalá, Justo und Pastor, den Märtyrertod starben: „Sie lassen von ihrem Glauben nicht los“, wie es in unserem Reiseführer etwas sperrig heißt, „und werden auf Befehl des Prätors hingerichtet.“
Der ihnen geweihte Trumm von einem Gotteshaus hat drei Schiffe und einen Chorumgang. Das Hauptschiff ziert ein Kreuzrippengewölbe, die Seitenschiffe sind mit Sterngewölben versehen. Im Hochaltar befindet sich der unverweste Körper des heiligen Diego von Alcalá.
Diese und weitere Einzelheiten müssen wir leider dem Reiseführer entnehmen, denn an diesem Tag empfängt uns die Kathedrale mit verschlossenen Portalen. Eine Tafel hinter der schmiedeeisernen Einfriedung nennt zumindest den Gläubigen Tag und Stunde der Abhaltung von Gottesdiensten. Andere Interessierte werden mit einer Telefonnummer abgespeist, unter der Öffnungszeiten zu erfragen seien.
Das heutige Erscheinungsbild der Kathedrale geht auf Kardinal Jiménez de Cisneros zurück, der als Erzbischof von Toledo und Großinquisitor von Kastilien am Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert Gelegenheit nahm, reichlich Gräueltaten im Namen des katholischen Glaubens anzurichten. Er war allerdings auch zu friedvolleren Hinterlassenschaften fähig. So initiierte Cisneros die erste mehrsprachig – in Latein, Griechisch, Hebräisch und Chaldäisch – gedruckte Bibelausgabe, ein Mammutwerk in sechs Bänden.
Einer seiner Amtskollegen, der 1482 in Alcalá verstorbene Bischof Alonso Carrillo de Acuña, gehörte zu den wirkmächtigsten Machern der spanischen Geschichte. Die Allianz der katholischen Könige Isabella I. von Kastilien und Leon sowie Ferdinands II. von Aragón trug seine Handschrift: Er entwarf die Fälschung eines päpstlichen Ediktes, das die Hochzeit überhaupt erst möglich machte. Als er später erfolglos mit den Waffen der portugiesischen Armee gegen Spaniens Krone konspirierte, anempfahl ihn Isabella nicht, wie damals für solche Unbotmäßigkeit üblich, seinem Herrn, sondern ließ ihn am Leben – aus Dankbarkeit, weil er sie „vom Spinnrad befreit und statt der rechtmäßigen Erbin, Juana La Beltraneja, auf den Thron erhoben hatte“, wie der Reiseführer mitzuteilen weiß. Und natürlich war der doppelte Frevel Carrillos kein Grund, ihm in Alcalá kein Denkmal zu errichten.
Die Initiative für die Verbindung mit Ferdinand, der mit 17 Jahren von zwei Mätressen bereits Kinder hatte, war übrigens von Isabella ausgegangen, die gegen den vorherrschenden Zeitgeist, die Rolle der Frau in der Gesellschaft betreffend, höchst emanzipiert gewesen sein muss. Ganz selbstbestimmte Frau, sorgte sie zugleich dafür, dass ihr auch nach der 1469 erfolgten Eheschließung die Krone von Kastilien erhalten blieb.
Isabella und Ferdinand waren es, die mit der Eroberung Granadas 1492 gemeinsam die Reconquista zu ihrem erfolgreichen Abschluss brachten. Damit endete die 700-jährige Herrschaft der Mauren auf der iberischen Halbinsel. Wo einst Mohammedaner, Christen und Juden – Loyalität gegenüber der maurischen Herrschaft vorausgesetzt – friedvoll zusammen leben konnten, wurden die Mauren in den rückeroberten Gebieten meist bald vertrieben. Die Juden sahen sich vor die Alternative gestellt, entweder zu konvertieren und unter den misstrauischen Augen der allgegenwärtigen Inquisition bei Strafe des Autodafés nur ja keinen Zweifel am neuen Bekenntnis aufkommen zu lassen oder ebenfalls zu emigrieren. Spanien war damit endgültig von einem Zeitalter der religiösen Toleranz sowie aus einer Blütezeit von Kunst und Wissenschaft auf ein Niveau zurückgefallen, das später zutreffender als finsteres Mittelalter apostrophiert werden sollte – eine Entwicklung, die in katholischen Kreisen des Landes und auch anderswo bis heute als großer Fortschritt gilt und gefeiert wird.
Im Jahre 1492 war es auch, dass als Emissär der katholischen Könige ein anderer Vertreter der Zeitgeschichte, Cristóbal Colón, die Gestade eines neuen Kontinents schaute, was für die Einheimischen ziemlich fatale Folgen haben sollte. Jahre zuvor war Colón in Alcalá erstmals von Isabella und Ferdinand empfangen worden und hatte sie hernach so penetrant mit seiner Idee genervt, einen westlichen Seeweg nach Indien entdecken zu wollen, dass sie ihm schließlich doch seine erste Flottille ausrüsteten.
In solch geschichtsträchtigen Städten wie Alcalá de Henares kommt man rasch, wie unschwer zu bemerken sein dürfte, vom Hölzchen aufs Stöckchen. Also zurück zur Kathedrale, die uns den Zugang verweigert. Von dort aus gelangen wir durch die enge, aber quirlige, durch zahlreiche Cafés, Restaurants und Geschäfte belebte Calle Mayor zum bescheidenen Geburtshaus des nun wirklich unbestritten größten Sohnes von Alcalá, auch wenn der hier nur seine frühen Jahre verbrachte: Miguel de Cervantes Saavedra, als drittes von sieben Kindern verarmter adeliger Eltern mutmaßlich am 29. September 1547 hierselbst geboren. Und da sitzt er auch schon in hagerer Gestalt und in vollem Wichs, mit Lanze und Schwert, zusammen mit seinem rundlich bodenständigen und völlig unritterlichen Begleiter Sancho Pansa auf bronzener Bank auf dem Trottoire vor dem Haus. Sancho, dem das leibliche Wohl allemal über alle Ritterallüren ging, hält ein Brot im Arm und säbelt sich gerade eine breite Schnitte ab.
Cervantes war ein Spätberufener, der mit der Niederschrift des Quichote erst mit 50 Jahren begann, also in einem Lebensalter, das zu seiner Zeit keine 150 von 1000 Geborenen überhaupt erreichten. Da hatte er, zunächst als junger Autor in Madrid erfolglos, einen Lebenskreis bereits durchschritten: als Soldat in der Schlacht von Lepanto zum Krüppel geschossen, auf dem Rückweg von Italien nach Spanien von Piraten gekidnappt und lange als Gefangener in Nordafrika, schließlich reisender Steuereintreiber. Ein Unsesshafter wie der Ritter von der traurigen Gestalt, den er zu schaffen begann, als er wegen des Verdachts auf Betrug einsaß – im Gefängnis von Sevilla. Da konnte er, was Lebenserfahrungen betraf, wahrlich aus dem Vollen schöpfen.
Heute steht der Dichter, Denkmälern, auch auf der Plaza Cervantes, nur zwei Fußminuten von seinem Geburtshaus entfernt. Dort liegt an diesem Tage intensiver Rosenduft in der Luft, denn auf zahlreichen Beeten hat die Königin der Blumen ihre Blütenpracht entfaltet.
Und weiter auf der Calle Mayor. Da erwartet uns die prachtvolle Hauptfassade der Universität, errichtet von 1537 bis 1553, die zu Recht als eines der Glanzstücke der spanischen Renaissance gilt. Über dem Eingang das Wappen des Gründers, jenes bereits erwähnten Bischofs Cisneros – mit Schachbrettmuster, Kardinalshut und zwei Schwänen. Diese Stätte, 1499 durch Papst Alexander VI., den wohl berüchtigtsten der spanischen Borgia-Sippe, genehmigt und nach der römischen Vorgängerstadt Alcalàs, Complutense, benannt, gehört neben der von Salamanca zu den ältesten und bedeutendsten Spaniens und begründete einst den europaweiten Ruf der Stadt als eines Zentrums von Wissenschaft und Bildung. Als die Universität 1833 nach Madrid verlegt wurde, verlor Alcalá stark an Bedeutung.
Die Gebäudesubstanz der Universität wurde im spanischen Bürgerkrieg schwer in Mitleidenschaft gezogen. Vorbildlich restauriert und 1978 auch als Alma Mater neu eröffnet, atmet der große Innenhof mit seinen dreigeschossigen Arkadengängen heute wieder das Flair von Jahrhunderten, von Gediegenheit und Geistesgröße.
Von dort tragen uns die inzwischen müden Füße zum Parador der Stadt, unserem Quartier. Der war ursprünglich 1929 als erst zweiter spanienweit überhaupt im ebenfalls auf Cisneros zurückgehenden Colegio de San Jerónimo eingerichtet worden, das von Lehrenden wie Studierenden während dreier Jahrhunderte nur Trilingüe genannt wurde – wegen der Trinität der dort unterrichteten Sprachen Latein, Griechisch und Hebräisch.
Gegenüber diesem architektonischen Kleinod im, wie unser Reiseführer formuliert, „reinsten Renaissance-Stil der Stadt Alcalá“ ist Ende 2008 ein neuer avantgardistischer Hotelkomplex mit modernstem, doch sehr unaufdringlichem Ex- und Interieur eröffnet worden, der sich ausgesprochen dezent in das historische Umfeld einfügt.
von Alfons Markuske, zz. Salamanca